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Immer erreichbar

„Ist das nicht ein herrlicher Tag!“ Erika steht auf der Terrasse und fotografiert mit ihrem Handy. „Nicht eine Wolke am Himmel. Schau dir doch mal das Farbenspiel der Sonne an!“

Werner schließt die E-mail-App seines Smartphones, betrachtet den Frühstückstisch und grummelt: „Es fehlt noch Butter.“

Sie lächelt nachsichtig, schiebt ihm die Schale mit der Butter zu und setzt sich. „Wir könnten heute zum Wasserfall wandern. In der Nähe ist auch ein Kloster. Das müssen wir unbedingt besichtigen.“

„Wir könnten auch mal einen Tag einfach nichts tun“, antwortet er vorsichtig und streicht bedächtig Butter auf sein Brötchen.

„Och bitte!“, drängelt sie, greift zur Kaffeekanne und versucht seinen Blick einzufangen, „du willst doch auch die Gegend hier kennen lernen.“

„Ja schon, aber unsere zweite Urlaubswoche ist fast um und wir haben noch keinen Tag in diesem herrlichen Garten gesessen.“ Er hebt den Kopf und bewegt seine Handfläche wie ein Conférencier zu den Liegestühlen. „Wir können es uns doch hier gemütlich machen, im Schatten der Bäume liegen und lesen.“

Heftiger als beabsichtigt setzt sie die Kaffeekanne ab. „Ich muss im Büro schon den ganzen Tag sitzen! Ich bin hier um mich zu bewegen.“

„Aber wir sind doch in Bewegung.“ Sein Blick wandert zu den Häusern im Tal. „Wir können nachher in den Ort gehen, essen und danach in den Gassen bummeln.“

Sie rollt ihre Augen und antwortet gelangweilt: „Dort sind wir jeden Abend und abends ist es dort ja auch lebhaft. Überhaupt, in der Mittagshitze an einer staubigen Straße sitzen und essen, das ist wirklich nicht prickelnd!“

„Verstehe doch“, er sieht sie bittend an, „für die Firma bin ich täglich unterwegs. Hier habe ich die Gelegenheit, einfach nichts zu tun.“

„Ja, aber das ist doch etwas ganz anderes!“, entgegnet sie, „gestern am See, da fandest du es doch auch toll und es war entspannend.“ Sie versucht ihn zu verstehen und überlegt: Will er wirklich nicht wandern oder ist er einfach nur träge?

„Ja“, seufzt er, „da waren wir am Wasser und es war auch entspannend. Nur bei dieser Gluthitze sollten wir nicht den ganzen Tag auf staubigen Teerstraßen zum Kloster latschen.“

Ihr Blick hellt sich auf. „Wir müssen nicht auf der Straße wandern! Es gibt da einen schattigen Weg am Hang entlang.“

„Ist das nicht zu weit?“, windet er sich und blickt dabei verstohlen auf sein Smartphone.

„Nö, bis Mittag können wir am Kloster sein. In dem Lokal dort soll man gut essen können.“

„Aber wie weit ist es dann von dort noch bis zum Wasserfall?“

„Dann ist es nicht mehr weit. Sieh mal“, sie schiebt das Frühstücksgeschirr zur Seite und breitet eine Wanderkarte aus, „hier ist das Kloster und dort der Wasserfall.“ Sie sprüht vor Tatendrang. „Höchstens eine halbe Stunde am Bach entlang.“

Sein Smartphone summt.

Ärgerlich blickt sie ihn an: „Du wolltest diesen Urlaub vollkommen abschalten. Keine Anrufe aus der Firma!“

„Tut mir leid, aber ich musste vorhin auf eine Email antworten. Das hat wohl nicht gereicht. Es dauert nicht lange.“ Er steht auf und stellt sich an den Rand der Terrasse.

Sie starrt auf seinen Rücken, sichtlich bemüht die Ruhe zu bewahren.

„ … das müssen die in der Zentrale entscheiden.“ Er beendet das Gespräch, wendet sich ihr wieder zu und lächelt.

Sie lächelt zurück und denkt: Das also hat ihn beschäftigt. Dann kann er jetzt ja wieder entspannt sein. Sie beobachtet wie er zum Tisch kommt, sich über den Plan beugt und für die eingezeichneten Wege interessiert.

„Wir können hier zurückgehen.“ Sein Finger auf der Karte beschreibt einen Bogen: „Wenn wir hier oben entlang gehen, dann haben wir bestimmt einen herrlichen Ausblick über die Landschaft.“

Demonstrativ kräuselt sie ihre Stirn: „Das ist jetzt aber eine wesentlich weitere Strecke.“

Verschmitzt lächelt er: „Du willst doch in Bewegung sein. Das hier ist doch mal eine echte Herausforderung.“

Sie will zustimmend nicken, zuckt aber zusammen, weil im selben Moment ihr Handy summt.

Er grinst sarkastisch: „Ach, wie war das noch, nichts Geschäftliches im Urlaub?“

„Das können ja auch die Kinder sein“, antwortet sie spitz.

Als sie wieder auflegt, fragt er mitfühlend: „Probleme im Geschäft?“

„Ja, es waren aber nur ein paar Unsicherheiten auszuräumen.“

Werner lacht: „Siehst du, mit dem Handy lässt sich vieles schnell und einfach regeln.“

Erika ist nachdenklich und schweigt. Dann entgegnet sie: „Das gilt vielleicht für dich! Es hat einige Urlaubstage gedauert, die Büroarbeit zu vergessen. Jetzt brauche ich wieder eine Weile, um Abstand zu gewinnen. Lass uns wandern, das wird helfen.“

Wolfgang Lessat

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