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Eine traumhafte Kanutour

Strahlend blauer Himmel. Die Sonne blinzelte unverhohlen zurück, als Klaus mühsam seine verschlafenen Augen öffnete. Wie so oft hatte er am Abend zuvor vergessen, die Jalousie zu schließen. Maria lag schlafend neben ihm unter ihrer rosa karierten Bettdecke. Er betrachtete zärtlich ihr ovales Gesicht. Es war umrahmt von schulterlangen, blonden Haaren. Eine der Haarsträhnen lief über ihre hohen Wangenknochen bis hin zum schmalen Mund. Versonnen beobachtete er ihren Atem und wie die Strähne sich mit gleichmäßigen Bewegungen im Takt dazu bewegte. Seine Erinnerungen wanderten dabei zu schönen Erlebnissen mit ihr. Er sah noch ihre Begeisterung, mit der sie Irene und Klaus überredete, eine Kanutour zu unternehmen. Dann verselbstständigten sich langsam seine Gedankenbilder und er schlief noch einmal ein…

…er sah sich leise aufstehen, sorgfältig darauf achtend, Maria nicht zu wecken. Noch leicht wackelig auf den Beinen ging er ins Badezimmer. Wie jeden Morgen grummelte er sein Spiegelbild an: „Guten Morgen lieber Mond, hast du gut geschlafen?“ Er beobachtete sich im Spiegel, wie er gähnend mit den Fingern durch seine kurzen, dunkelbraunen Haare fuhr: „Ok, wie war das noch? Ist dieser Tag nicht dein Freund, dann soll er wenigstens dein Lehrer sein. Noch mehr solche Sprüche und ich lege mich wieder hin.“

Die Morgentoilette war schnell erledigt. Nachdem er sich zügig angezogen hatte, verließ er das Bad. Auf dem Weg durch den Flur fühlten sich seine Waden merkwürdig schwer an. Auch wunderte er sich darüber, dass der Flur ungewöhnlich viele Türen hatte. Es schien ihm, als hätte er Saugnäpfe unter den Fußsohlen. „So viel hatte ich doch gar nicht getrunken“, ging ihm durch den Kopf. Mühsam näherte er sich der nächst gelegenen Tür.

Die Tür schwang auf, bevor er den Türgriff anfassen konnte. Mit fröhlichem: „Hallo!“, „Auch schon auf?“, „Hi!“, begrüßten ihn Peter, Irene und Maria. Sie saßen in der Küche am reichlich gedeckten Frühstückstisch. Mit einem lässigen „Moin“ setzte er sich dazu. Er war verwundert darüber, als Letzter zu kommen, ließ sich aber nichts anmerken.

Nach dem ausgiebigen Frühstück gingen sie zu den Autos. Sie befestigten die schon bereitstehenden Kanus auf den Dachgepäckträgern. Getränke und der Korb mit dem Essen verstauten sie im Heck. Dann stiegen sie ein und der Ausflug begann. Fünf Kilometer später stockte der Verkehrsfluss. „Wir hätten daran denken sollen, dass Hamburg heute feiert“, sagte Maria.

Es kamen ihnen mit Blumen geschmückte Wagen entgegen. Auf den Ladeflächen der Anhänger tanzten und sangen Menschen. Einige trugen bunte, aufwendig gestaltete Gewänder. Andere waren nur spärlich bekleidet. Laute Schlagermusik begleitete den Festzug, bis plötzlich das langsam anschwellendes Knattern schnell drehender Rotorblätter die Musik zu ersticken drohte. Ein Hubschrauber näherte sich der Kreuzung und setzte zur Landung an. Der Verkehr kam nun vollständig zum Erliegen.

Klaus und Maria fuhren rechts auf den Parkstreifen. Peter und Irene folgten. Sie beratschlagten kurz, wie es jetzt weitergehen sollte. Sie beschlossen, die Kanus von den Dachgepäckträgern herunterzuheben und die Getränke und die Essenskörbe im Innern der Boote zu verstauen. Den restlichen Weg würden sie jetzt zu Fuß bewältigen.

Die siebenhundert Meter bis zum Ufer der Außenalster trugen sie die Boote. Dort angekommen setzten sie ihre Kanus vorsichtig ins Wasser und stiegen ein. Sie hatten Schwierigkeiten, die wackeligen Boote zu stabilisieren. Das Ufer war glitschig und zu allem Überfluss näherte sich auch noch ein Ausflugsdampfer und sorgte für leichten Seegang. Klaus und Maria konnten ein Kentern gerade eben noch verhindern. Schließlich war auch diese Hürde genommen.

Mit gleichmäßigen Paddelschlägen trieben sie die Kanus über die blau-weiß-gekräuselte Fläche der Außenalster voran. Wenige Minuten später umgab sie eine paradiesisch ruhige Atmosphäre. Die Großstadtgeräusche waren nur noch ein leises, gleichmäßiges Brummen im Hintergrund. Links und rechts spiegelten sich jetzt hohe Birken im Wasser. Klaus schaute sich um. Peter und Irene waren nicht mehr zu sehen.

Vor ihm saß Maria in ihrem dunkelblauen Pullover und paddelte mit gleichförmigen Bewegungen. Klaus verlor sich in seinen Gedanken. Er war wie hypnotisiert auf ihre blonden Haare fixiert, die im Takt des Paddelns hin und her wippten. Plötzlich erschrak er.

Marias Haare wurden immer heller. Der ganze Kopf fing an zu leuchten. Von links kam unter lauter werdendem Tuten der Ausflugsdampfer gefährlich schnell auf sie zu. Klaus geriet zunehmend in Panik, bis ihm allmählich Marias sanfte Stimme bewusst wurde: „Mach doch den Wecker aus…, bist du wach? Ich freue mich schon auf die Kanutour“. Klaus blinzelte mit verschlafenen Augen in die Sonne. Wie schon so oft, hatte er am Abend zuvor vergessen, die Jalousie zu schließen.

Wolfgang Lessat

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