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Die unscheinbare Frau und
das längste Märchen der Welt

Kaum einer der Dorfbewohner hatte der unscheinbaren Frau seine Aufmerksamkeit geschenkt. Geradewegs über die belebte Hauptstraße nahm sie den direkten Weg zum Schloss. Der König wollte das längste Märchen der Welt besitzen, und sie war auf dem Weg, es ihm zu bringen.

Unruhig, aber fest entschlossen, blickte sie zu den weiß aufragenden Schlossmauern am Ende der Straße. Die im Blattgold der Schlosstürme spiegelnde Sonne schien sie an und ermutigte sie, ihren Plan umzusetzen. Vor der Schmiede neben ihr scharrte ein Hengst unruhig mit den Hufen. Ein Schmied und sein Geselle bearbeiteten gerade mit gleichmäßigen Schlägen seine Hufeisen. Die wechselnden Aufpralle der Schmiedehämmer schlugen im Takt ihres aufgeregten Herzens.

Der König war ein Tyrann; er hatte ihr alles genommen. Seit zehn Tagen war sie schon unterwegs – eine entbehrungsreiche Reise, auf der ihr Plan reifen konnte, wie sie dem verhassten König sein Reich nehmen würde. Die Stunde der Audienz rückte näher, und sie musste sich beeilen.

Ihre Schritte wurden langsamer, als sie den warmen Duft frisch gebackener Brote roch. Die Backstube erinnerte sie daran, dass sie schon seit langem nichts mehr gegessen hatte. Doch sie widerstand der Versuchung und ging zügig weiter.

Die Hauptstraße endete vor dem Schloss. Sie staunte über das riesige, mit glitzernden Diamanten besetzte, große „V“ verzierte und ansonsten schlichte eiserne Schlosstor. Es war verriegelt, und die Zugbrücke davor war hochgezogen. Das leichte Plätschern und das gleichförmige Rauschen des Schlossgrabens ließen sie kurz entspannen. Noch in Gedanken an ihren Plan versunken, drang langsam die Stimme der Schlosswache zu ihr: „Halt, wohin, unscheinbare Frau?“

„Ich will zum gütigen und großherzigen König!“ Ihr sarkastischer Unterton wurde glücklicherweise nicht wahrgenommen. „Was ist euer Begehren?“ „Ich bringe unserem König das längste Märchen der Welt, so wie er es sich wünscht!“ Der Posten gab ein kurzes Signal, und die Zugbrücke setzte sich scheppernd in Bewegung. Die Ketten rasselten, als die Brücke in ihre Lager fiel. Dann begann das schwere Schlosstor sich zu entriegeln und öffnete sich träge. Das ächzende Knarren der Scharniere hallte über die Pflastersteine des menschenleeren Schlosshofs.

Die unscheinbare Frau stieg die breite Treppe zum Hauptportal hinauf und erreichte bald den prunkvollen Speisesaal. Dort stand ein reichlich gedeckter Tisch. Sie durfte sich setzen und von all den köstlichen Speisen essen. Sie genoss das ausgiebige Mahl und ließ sich reichlich Zeit dabei. Ihr war bekannt, dass sie anschließend zum König in sein Wasserpfeifenzimmer geführt werden würde, und wollte es nun doch noch etwas hinauszögern.

Auch wusste die unscheinbare Frau von seiner Vorliebe für Wasserpfeifen und hatte während ihrer Reise gezielt Kräuter gesammelt. Es waren Substanzen, die nur ein wenig, aber ausreichend genug, die Sinne des Königs verändern würden. Sie hatte Vertrauen darin, dass seine Bösartigkeit sich durch das Inhalieren ihrer Dämpfe verflüchtigen würde.

Mehrere Diener geleiteten sie zu einem prunkvollen und trotzdem gemütlich eingerichteten Raum. Zwei Ohrensessel standen sich in der Mitte auf einem kunstvoll geknüpften Teppich gegenüber. In einem der Sessel saß der König. Eine großartig verzierte Wasserpfeife wurde hereingetragen und vorbereitet. Die Bediensteten wuselten im Raum herum, um alles dem König recht zu machen. In einem unbeobachteten Moment konnte die unscheinbare Frau ihre getrockneten Kräuter heimlich auf den Kopf der Wasserpfeife rieseln lassen.

Der König wandte sich ihr zu und sprach: „So, junge unscheinbare Frau, lasst hören! Du weißt, wenn du mir das längste Märchen der Welt bringst, dann werde ich mich damit in den Schlossturm zurückziehen. Dann darfst du das Land regieren. Falls aber das, was du zu erzählen hast, mir nicht gefällt, wirst du im tiefsten Kerker des Schlosses für ewig weggesperrt werden!“

Es war ein böses Spiel. Der König versprach sich durch solche Versprechen tägliche Belustigung, ohne jemals die Absicht zu haben, sein Versprechen einzulösen. Er nannte das Spiel „Volksunterhaltung“. Jeder im Land kannte dieses böse Spiel, aber niemand durfte darüber reden. Jeder, der die verbotenen Worte „böses Spiel“ aussprach, wurde bestraft. Ritter mit einem roten „V“ wie „Volksunterhaltung“ auf ihrer Rüstung überwachten die Bürger.

Die unscheinbare Frau begann zu erzählen, und der König nahm den ersten Zug an seiner Wasserpfeife. Noch ehe die Sonne hinter dem Blau des Abends ihre goldgelben Strahlen versteckt hatte, zeigte sich der König entzückt, leicht benebelt, aber verzückt und begeistert.

In einer Dauerschleife hörte er mit Begeisterung das Märchen von dem Poeten, der von der Größe, Herrlichkeit und Großzügigkeit des Königs erzählte, nicht zu vergessen seiner Kraft und seiner Klugheit. Der König sah sich selbst darin beschrieben und war so geschmeichelt, dass er gar nicht aufhören mochte, der Geschichte zuzuhören. Er konnte sich zeitweise kaum beherrschen und musste lauthals lachen.

Da das Märchen immer wieder an der Stelle endete, wo der Poet ein Buch aufschlägt, und die Geschichte eines Poeten beginnt, in der von der Größe, Herrlichkeit und Großzügigkeit des Königs erzählt wird, nicht zu vergessen seiner Kraft und seiner Klugheit, konnte das Märchen nie enden.

Ja, so erzählt man sich, und wenn der König nicht gestorben ist, dann sitzt er noch heute in seinem Schlossturm unter der vergoldeten Turmspitze und hört entzückt, leicht benebelt, aber verzückt und begeistert dem längsten Märchen der Welt zu.

Die unscheinbare Frau aber verstand es, das Land so zu regieren, dass die Bewohner in Glück und Wohlstand leben konnten. Der König geriet sehr schnell in Vergessenheit. Nur manchmal, aber nur wenn man genau hinhörte, konnte man sein lautes Lachen aus seinem Schlossturm, das ist der mit der vergoldeten Turmspitze, hören.

© Wolfgang Lessat https://lessat.net/

PDF: Die unscheinbare Frau