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Abenteuer Elbabwärts

Ich stehe auf der Köhlbrandbrücke. Der Ostwind bläst mir ins Gesicht und trägt den süß-schweren Dunst der nahegelegenen Ölmühle mit sich. Erinnerungen an meine Kindheit werden wach. Damals gab es diese Brücke noch nicht. Auf der südlichen Elbseite begannen am Sandauhafen erste Vorbereitungen für einen Brückenfeiler. Die dazu erforderliche Fläche wurde freigeräumt. Die Arbeiten hinterließen eine künstliche Dünenlandschaft.

Wir waren zwei Halbwüchsige, die am Strand vor der Dünenlandschaft leicht durchnässt neben ihrem alten Ruderboot lagen. Es war ein aufregender Tag gewesen. Mein Freund rief mich morgens an und fragte, ob ich Lust hätte, zu ihm an die Elbe nach Neuland zu kommen. Ich war begeistert, rief meiner Mutter beim Hinausgehen zu: „Ich bin bei Manfred“ und holte mein Fahrrad aus dem Keller. Draußen bogen sich die Äste der Straßenbäume unter einer frischen Brise des Ostwinds. Ich schwang mich auf mein Fahrrad und trat in die Pedalen.

Noch bevor ich die Siedlung verlassen hatte kamen erste Zweifel auf, ob ich die Strecke schaffen würde. Vor mir lagen zehn Kilometer im Gegenwind. Ich hing tief über den Lenker geduckt, um windschnittig zu sein. Nachdem die Straßen der Wohnsiedlung hinter mir lagen, führte mich die Strecke mehrere Kilometer geradeaus, entlang Bahndamm und Kleingärten. Anschließend ging der Weg durch den Binnenhafen, vorbei an roten Backsteinmauern der Lagerhallen, ihren angrenzenden Kaianlagen und den Betriebshöfen mit hoch gestapelten Holzpaletten.

Reichlich erschöpft hatte ich endlich die alte Süderelbbrücke erreicht, deren bogenförmige Stahlträger wie ein verwobenes Zopfmuster den Fluss überspannen. Noch etwa drei Kilometer lagen vor mir. Ich kurvte am historischen Südportal vorbei, unterquerte Gleisanlagen und fuhr bis Neuland am Deich entlang.

Etwas abgehetzt kam ich endlich an. Manfred wartete schon. Stolz präsentierte er mir seine neueste Errungenschaft, ein altes Ruderboot. Ich blickte wohl etwas skeptisch. Es waren Risse zu sehen und Reste verblasster Farbschichten blätterten ab. Er erklärte: „Das Holz von Kiel und Spanten ist noch gut erhalten. Die Planken werden im Wasser quellen. Sie drücken dann gegeneinander und werden keinen Tropfen durchlassen.“ Wir schoben das Boot über die Grasfläche in den Fluss und dümpelten eine Weile neben dem Schilfdickicht. Gegenseitig malten wir uns Abenteuer aus, die wir mit diesem tollen Schiff erleben können. Die Elbe bis zur Seeve hochrudern oder sogar bis zur Imenau. Ein Zelt mitnehmen, am Ufer wild kampieren und bei aufgehender Sonne weiterfahren. Natürlich würden wir ihm zuerst einen neuen Anstrich geben und es müsste einen Namen bekommen. Uns war, als wäre das Ruderboot ein Schiffsneubau. In die Bilge war kaum Wasser eingedrungen. Damit war beschlossen, jetzt eine Jungfernfahrt zum Köhlbrand zu unternehmen.

Wir ruderten los. Jeder an einem der beiden Bootsriemen, unterstützt vom Wind im Rücken, trieben wir den Elbstrom hinunter. Das gleichmäßige Pullen war schlagartig vorbei als wir quer ins Kielwasser einer Schute gerieten. Die Gischt sprühte hoch, unser Boot bäumte sich in Längsrichtung auf und neigte sich quer als es abwärts ging. Wir schaukelten wild und unkontrolliert. Es war erschreckend schön. Bis zum Sandauhafen durchkreuzten wir jauchzend und lachend noch mehrere solcher Wasserspuren. Dort landeten wir wohlig erschöpft am flachen Strand an. Wir streckten uns im Sand aus und lagen nebeneinander im Genuss der gerade durchgestandenen Wagnisse. Aufgewühlt redeten wir stellenweise gleichzeitig und durchlebten noch einmal die letzten Flusskilometer. Die Sonne stand schon hinter den Ladekränen der westlichen Hafensilhouette, als wir wieder aufbrachen.

Jetzt hatten wir gegen die Winde anzukämpfen, die uns zuvor unterstützt hatten. Unsere Dynamik ließ nach, bevor wir den ersten Kilometer zurückgelegt hatten. Wir versuchten, gegen den Wind zu kreuzen. Das war zwar weniger anstrengend, verlangte aber mehr Ausdauer. Der Zick-Zack-Kurs verlängerte die Strecke und wir bekamen das Gefühl, unserem Heimathafen kaum näher zu kommen. Wir versuchten zu treideln. Einer stolperte als Schiffszieher über die grob behauenen Steinquader der Uferbefestigung, während der andere das Boot steuerte. Schnell mussten wir feststellen, dass auch diese Technik eher mühsam als hilfreich ist. Wir legten uns wieder gemeinsam in die Riemen, stellten uns den Windböen und plagten uns stromaufwärts.

Auf Höhe des Harburger Fähranlegers mahnte uns eine HADAG-Fähre mit lautem Tuten, den Landesteg zu räumen. Einige der wartenden Fahrgäste riefen zu uns im Takt: „Hau ruck, hau ruck!“ Wir hatten Tränen in den Augen. Noch bis zu den Elbbrücken konnten wir durchhalten, dann erlahmten unsere Kräfte. Wir hörten auf zu rudern und sahen uns verzweifelt um. Verschiedene Motorsportboote waren unterwegs. Sie jagten vorbei, kreuzten den Strom oder ließen sich in Ufernähe treiben. Eins von ihnen erkannte unsere Situation, kam längsseits und nahm uns in Schlepptau. Wenig später hatten wir das heimatliche Ufer erreicht. Wir waren müde, erschöpft und trotz allem ein wenig stolz.

Wolfgang Lessat

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