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Das kleine Selbstbewusstsein will wachsen

Es war einmal ein kleines Selbstbewusstsein. Es lebte zufrieden in einer kleinen Stadt. Nur, dass es noch klein und unerfahren war, damit wollte es sich nicht abfinden. Es wollte möglichst schnell groß werden und sagte oft laut: „Ich kann das, ich schaffe das, ich bin groß.“ Dabei richtete es sich stolz auf und streckte seine kleine Brust vor. Doch sehr häufig war es sich seiner wechselnden Gedanken und Gefühle unsicher und fühlte sich unwichtig.

Eines Tages beschloss das kleine Selbstbewusstsein, voller Entschlossenheit hinauszugehen, um die ihm noch unbekannten Geheimnisse des Lernens und Wachsens zu entdecken. Der erste Weg führte es zur Bibliothek. Doch anstatt in den zahlreichen Büchern nach dem Geheimnis zu suchen, hielt es inne und beobachtete das Verhalten der Menschen.

Ein junger Mann wirkte frustriert, weil er mit der Katalogisierung der Bücher nicht zurechtkam. Nach einigem Zögern wandte er sich an eine ältere Dame am Tresen und bat sie um Hilfe. Das führte beim kleinen Selbstbewusstsein zu Anspannung und einer inneren, aufgewühlten Auseinandersetzung. Es empfand es als Schwäche, Unterstützung zu suchen und anderen zur Last zu fallen. Umso mehr war das kleine Selbstbewusstsein beeindruckt zu sehen, wie der Mann damit umging. Es erkannte, dass wahres Selbstbewusstsein bedeutet, sich einzugestehen, wenn man Hilfe benötigt, und dass dies ein Zeichen von Stärke ist.

Nach dem Besuch in der Bibliothek ging das kleine Selbstbewusstsein zu einem nahegelegenen Park. Obwohl es selten allein war – es hatte seine geliebten Hobbys, ein paar enge Freunde und liebevolle Familienmitglieder – fühlte es sich manchmal einsam und verloren. Wenn niemand da war oder es an fremden Orten war, spürte es ein schmerzliches Gefühl der Verlassenheit. Das kleine Selbstbewusstsein wünschte sich, besser damit umzugehen.

Im Park traf es eine junge Frau, die entspannt auf einer Bank saß und ein Buch las. Um sie herum blühten die Blumen in voller Pracht. Die Sonne lugte hinter einigen wenigen Wolken hervor. Neugierig fragte das kleine Selbstbewusstsein, wie sie sich fühle. „Ich genieße diese Zeit allein“, antwortete sie mit einem Lächeln. „Es ist wichtig, Zeit mit sich selbst zu verbringen. Wenn ich die eigene Gesellschaft schätzen kann, ist das ein Zeichen von Stärke.“

Vor der Cafeteria fand ein Wettbewerb statt, bei dem der Gewinner einen kunstvoll dekorierten Kuchen präsentierte. Das kleine Selbstbewusstsein beobachtete die nervösen Kandidaten. Der Unterschied zwischen der Backkunst des Gewinners und der unglücklichen Kreation des Verlierers war offensichtlich. Anstatt in Peinlichkeit zu verstummen, lächelte der Verlierer freundlich und sagte: „Ich muss darüber nachdenken, was ich falsch gemacht habe. Beim nächsten Mal kann ich es besser machen.“ Das kleine Selbstbewusstsein war zutiefst beeindruckt. Es erkannte, dass auch das Eingestehen von Fehlern eine wahre Stärke ist.

Als es darüber nachdachte, ob es auch so mutig reagieren könnte, begann es, sich mit dem Verlierer zu vergleichen. Schnell überkam es ein Gefühl der Minderwertigkeit. Es dauerte eine Weile, bis es begriff, dass jeder seinen einzigartigen Weg hat und dass der eigene Fortschritt das Wichtigste ist. Es lernte, dass es schmerzhaft und herausfordernd ist, die eigenen Unzulänglichkeiten einzugestehen und sich selbst zu verzeihen.

Das kleine Selbstbewusstsein wollte seine Erfahrungsreise fortsetzen, als Freunde es sahen und riefen: „Kommst du mit?“ Es fiel dem kleinen Selbstbewusstsein schwer, „Nein“ zu sagen. In der Regel verzichtete es auf seinen eigenen Willen, um anderen zu gefallen oder Konflikte zu vermeiden. Heute erinnerte es sich an seine treue Freundin, das kleine Glück, die früher stets alles für andere tat und dabei vergaß, auf sich selbst zu achten. Eines Tages jedoch hatte sie überraschend „Nein“ zu einer Einladung gesagt, weil sie gerade nicht wollte. Das kleine Selbstbewusstsein erinnerte sich, wie gut es für sie war, Grenzen zu setzen und dass dies ein Zeichen von Respekt für die eigenen Bedürfnisse war. Es rief: „Heute nicht, aber wir treffen uns ja morgen!“

Vor dem Ausgang des Parks fand eine Versammlung statt. Viele der Teilnehmer waren bemüht, Aufmerksamkeit und Anerkennung für ihre Beiträge zu erhalten. Das kleine Selbstbewusstsein hatte den Wunsch, sich ihnen anzuschließen, und bemerkte dabei nicht seine Abhängigkeit von Anerkennung und Lob. Etwas unbedacht stolperte es, war abgelenkt, entschuldigte sich ziellos und beobachtete nun entspannter das aufgeregte Geschehen. Es sah, wie einige ruhig miteinander Gespräche führten. „Die scheinen glücklich zu sein, ohne im Mittelpunkt zu stehen“, dachte sich das kleine Selbstbewusstsein. Es merkte, dass wahres Selbstbewusstsein in der inneren Stärke liegt und nicht von der Aufmerksamkeit anderer abhängen darf. Diese Erkenntnis würde sich in den nächsten Tagen noch als größte Herausforderung herausstellen. Es ahnte nicht, wie lange die innere Reise dauern würde, bis es seinen Wert von innen heraus, unabhängig von der schwankenden Meinung anderer, bestimmen kann.

Wieder zurückgekehrt, spürte das kleine Selbstbewusstsein, dass seine Erkenntnisse erst der Beginn waren. Es hatte gelernt, die Welt um sich herum mit neuen Augen zu sehen und freute sich auf das, was noch kommen würde. Der Weg des Lernens und Wachsens würde nie zu Ende sein. Aber mit jedem Schritt, den es machte, würde es dem, was es sich in seinem Herzen wünschte, näherkommen.

© Wolfgang Lessat
Hamburg, 9. Februar 2025
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